Enrico Köhler, Manager Financial Services Payment and Digitalization AUSY Technologies, erläutert im Interview mit der Fachzeitschrift enowa Edition Versicherung, inwiefern sich Funktionsweisen und Strukturen aus dem Finanzsektor auf Versicherungen übertragen lassen. Sind etablierte Standards dabei sogar ein Innovationshemmnis?
Ohne zu übertreiben, lässt sich sagen, dass nur wenige Branchen so strengen regulatorischen Anforderungen unterworfen sind wie der Sektor der Finanzdienstleistung. Neben den Versicherern betrifft dies vor allem die Banken, deren Arbeitsabläufe in unterschiedlichen Bereichen durch Standards definiert werden. Lassen sich Rückschlüsse auf Versicherer übertragen? Wir haben mit Enrico Köhler von der AUSY Technologies AG gesprochen. Das Unternehmen entwickelt kundenspezifische Softwarelösungen – auch im Bereich der Finanzdienstleistung.
enowa: Herr Köhler, worin sehen Sie die Besonderheiten im Bankenwesen? Warum gibt es ausgerechnet dort ein so hohes Maß an standardisierten Prozessen?
Enrico Köhler: Standards geben Sicherheit! Sie optimieren Prozesse und minimieren das Auf treten von Fehlern – dadurch erzeugen sie Ver trauen in ein System. Durch Standards konnte in Banken ein hoher Grad an Automatisierung zum Beispiel im Bereich des Zahlungsverkehrs erreicht werden. Diese End-to-end-Prozesse laufen nahezu fehlerfrei. Fehler können somit nur durch den Nutzer entstehen. Durch brancheneinheitliche Standards lassen sich viele Anwendungsfehler vermeiden. Banken nutzen beispielsweise einheitliche Formate im Zahlungsverkehr wie das SEPA-Verfahren, das die bargeldlose Zahlung im europäischen Wirtschaftsraum vereinheitlicht. Zudem gibt es einige technische Standards wie SWIFT oder EBICS, die von den Instituten genutzt werden. Natürlich ist hier die Verbindlichkeit eine der Voraussetzungen. Banken müssen sich vielen Standardisierungen unterwerfen, von denen einige nicht nur als vorteilhaft betrachtet werden können. Nehmen wir einmal die Girocard, die in den letzten Jahren wohl eher als Innovationshemmnis zu sehen ist.
"Setzen Innovationen auf bestehenden Standards auf, so haben diese durchaus eine Chance, sich zu etablieren."
enowa: Also schließen Standards automatisch Innovationen aus?
Köhler: Es zeigt sich bei den Banken sehr gut, dass beides gegenläufig sein kann. Viele Standards erfüllen ihren Zweck: breite Akzeptanz und Kostenersparnisse. Sie erreichen aber oft einen zweckdienlichen Status und bringen danach wenig Innovationen. Eine Weiterentwicklung von Standards läuft sehr schleppend. Marktgetriebene Innovationen hingegen sind oft sehr spannend und vor allem „etwas fürs Auge“. Sie haben es schwer, zum Standard zu werden, weil die Branche abwartend bleibt. Setzen Innovationen aber auf bestehenden Standards auf, so haben diese durchaus eine Chance, sich zu etablieren.
enowa: In welchen Bereichen sind Arbeitsprozesse standardisiert? Können Sie Schwerpunkte feststellen?
Köhler: Unter diesem Gesichtspunkt ist die gesamte Finanzdienstleistungsbranche ein einziger Schwerpunkt. Für Banken gelten Standards unter anderem für Kredite, Konten, Zahlungsverkehr und zukünftig durch ESG für den ökologischen Fußabdruck. Dies sind häufig über einen langen Zeitraum implementierte Standards. Als Beispiel ist hier ISO 20022 zu nennen. Durch das einheitliche XML-Format wurde beziehungsweise wird der europäische Zahlungsverkehr vereinheitlicht, hierzu zählen SEPA oder auch TARGET2. Im nächsten Schritt passiert das auch mit SWIFT auf der internationalen Ebene. Spätestens im Jahr 2025 wird ISO 20022 vollumfänglich europaweit und im SWIFT-Netz Altformate abgelöst haben. Die Vorgängerprotokolle waren Jahrzehnte lang im Einsatz. Die Innovationszyklen werden immer kürzer, sodass man bei neuen Standards bereits zukünftige Transformationsprozesse bedenken sollte.
enowa: Wie sieht es mit Selbstverpflichtungen aus?
Köhler: Es zeigt sich, dass Selbstverpflichtungen meist scheitern und die Pflicht zum Standard über zentrale Stellen vorgegeben werden muss. Beispiele gibt es genug: SEPA, Instant Payments, Open Banking – hier wurde zunächst auf eine selbstregulierende Wirkung des Marktes gesetzt, später mit Verpflichtungen – dabei gehe ich sehr stark davon aus, dass eine Instant-Payment-Verpflichtung nun bald kommen wird.
"Es zeigt sich, dass Selbstverpflichtungen meist scheitern und die Pflicht zum Standard über zentrale Stellen vorgegeben werden muss. "
enowa: Wo sehen Sie die Parallelen zur Versicherungsbranche und wie können bankenübliche Standards hier von Vorteil sein?
Köhler: In vielen Bereichen bestehen ähnliche Anforderungen. Nehmen Sie nur die versicherungsaufsichtsrechtlichen Anforderungen an die IT (VAIT), die den Anforderungen der Bankenaufsicht (BAIT) nach wenigen Monaten folgten. Und auch im Versicherungsbereich gibt es mit Solvency II eine Vorgabe, die die Eigenmittelanforderungen definiert – hier sind mit der richtigen Lösung deutliche Zeiteinsparungen möglich. Für die nahe Zukunft steht mit dem Cyber-Resilience-Standard DORA eine neue Herausforderung für die IT-Abteilungen der Versicherer bevor. Wie Banken unterliegen auch Versicherungen dem CSRD. Hierzu muss bereits in den nächsten Jahren die Core-Berichterstattung etabliert werden, und in den Folgejahren kommen dann die Advanced ESRS, also die European Sustainability Reporting Standards.
Spannend hinsichtlich zusätzlicher Potenziale sind die definierten Standards und Regularien, die Banken für den Kundenkontakt setzen. Das kann in der Versicherungsbranche beispielsweise eine automatisierte Schadensabwicklung sein, wenn durch einzigartige Umweltereignisse große Zahlen an Ansprüchen im gleichen Zeitraum eintreten. Man kann aber auch Standards bei Neuabschlüssen für den Bereich der Risikoabwägung nutzen. Spartenprobleme könnten durch einheitliche digitale Kundenakten gelöst werden, diese kann man auch auf Blockchain-Lösungen abbilden. Ebenso könnte man mehr auf einheitliche Cross-Selling-Standards setzen, z. B. eine kurzzeitige Skiversicherung bei Urlaubsbuchungen oder eine Autoversicherung beim Autokauf.
Das gesamte Interview finden Sie auch HIER als PDF zum Download